ZAli ist auf alles vorbereitet. Auf dem Tisch vor ihm liegen zwei Telefone. Ein Smartphone mit gesprungenem Display und ein zweites, ein altes Nokia, das in Europa schon wieder als hip gelten könnte. Das Nokia ist sein Notfalltelefon. Ali und seine Freunde haben es vom Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks erhalten. Die Kurzwahltaste 1 benutzen sie, wenn ein Ägypter ihnen auf der Straße den Schädel einschlagen will, weil sie schwarz sind – also etwa einmal im Monat. Einmal haben sie unter der Nummer jemanden erreicht und eine Notunterkunft erhalten. Deshalb nennt Ali sein Nokia scherzhaft »The phone of hope.« Er wiederholt diesen Ausdruck immer wieder, während wir in einem Café im Viertel 6th of October am Stadtrand von Kairo Tee trinken. Er lacht dabei über sich selbst, so laut, dass sich die anderen Gäste verwundert umdrehen. Auch sie sind Flüchtlinge, und viele kommen wie Ali aus dem Sudan. Sie alle warten im Zentrum des Viertels, in der Nähe des Büros des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), auf eine bessere Zukunft.
Dass Ali noch Hoffnung hat, grenzt an ein Wunder. Denn seit er den Sudan verlassen hat, wurde er immer wieder enttäuscht. Im Juni 2014, er war 23 Jahre alt, flog er in die jordanische Hauptstadt Amman. Schlepper hatten ihm ein Visum für eine medizinische Behandlung organisiert. Doch nach der Ankunft in Amman fuhr Ali nicht in ein Krankenhaus, sondern zum UNHCR-Büro. Er wollte sich dort registrieren lassen, denn Flüchtlinge stehen offiziell unter internationalem Schutz. Es war der Beginn einer Odyssee durch den Nahen Osten, die nun schon drei Jahre dauert. Ali wollte nie nach Europa. Aber weil Jordanien ihn wieder abschob und Ägypten für ihn die Hölle ist, sieht er keinen anderen Weg. Seine ganze Hoffnung legt er in das Umsiedlungsprogramm des UNHCR.
Besonders gefährdeten Flüchtlingen bietet der UNHCR eine legale Reise aus ihrem ersten Zufluchtsland in ein sicheres Drittland. Für Flüchtlinge aus Syrien sind die ersten Zufluchtsländer häufig Nachbarländer wie die Türkei, Jordanien oder Libanon. Dort können sie in einem Büro des UNHCR eine Umsiedlung in einen sicheren Drittstaat beantragen.
Das Programm soll eine Alternative zum Asyl darstellen. Theoretisch ermöglicht es die legale Einreise in westliche Länder, auch nach Europa, ohne den tödlichen Weg übers Mittelmeer zu nehmen. Millionen Syrischer Flüchtlinge erfüllen die Kriterien, aber in den Jahren 2016 und 2015 nahmen die EU-Staaten über das Programm nur 37.500 Flüchtlinge auf. Im gleichen Zeitraum ertranken allein auf dem Weg nach Lampedusa fast 9.000 sogenannte Boatpeople. In der EU kommen nur 25 aufgenommene Flüchtlinge auf eine Million Einwohner, obwohl die Kommission Mitgliedsstaaten regelmäßig auffordert, mehr Plätze anzubieten. In den USA, Kanada und Australien sind es fast achtzehnmal so viele.
Ali war 13. Er spielte mit seinen Freunden am Ufer eines Flusses, als die Soldaten der Regierung begannen, die Dörfer in seiner Heimat Darfur niederzubrennen. Mit seinem ältesten Bruder flüchtete er ins Dorf ihrer Schwester, das unter internationalem Schutz stand.
Dort besuchte Ali das erste Mal eine Schule und lernte von den von Helfern Englisch. Nach kurzer Zeit erfasste der Bürgerkrieg auch das Dorf seiner Schwester. Sein Bruder wurde auf offener Straße erschossen. Ali rettete sich in ein UNHCR-Zeltlager.
Darfur verließ er endgültig im Herbst 2013. Er schaffte es in die Hauptstadt Khartum. Von dort wollte er weiter in den Südsudan, der damals als sicher galt, weil er ein Friedensabkommen mit dem Sudan geschlossen hatte. In Khartum arbeitete Ali auf einem Gemüsemarkt, er sparte für die Flucht, doch als er das Geld zusammen hatte, brach der nächste Bürgerkrieg aus. Khartum galt zwar als sicher, doch die Regierung hielt Ali für einen Unterstützer der Opposition. Für ihn gab es im Sudan keine Sicherheit mehr.
Er besorgte sich ein Visum und flüchtete nach Jordanien.
Ist das Umsiedlungsprogramm des UNHCR ein Instrument um sichere Fluchtrouten nach Europa zu schaffen?
Nein. Sie wurden geschaffen um besonders gefährdeten Flüchtlingen, die auch im Erstzufluchtsland noch bedroht sind, die Ausreise zu ermöglichen. Legale Einwanderung im großen Stil machen sie aber nicht möglich.
Welche Chance hat der UNHCR, Flüchtlingen aus anderen Staaten zu helfen?
Eigentlich müssten Flüchtlinge wie Ali vor den europäischen Botschaften protestieren, nicht vor den Büros der UNHCR. Die Aufnahmeländer bestimmen, wie viele Plätze für Umsiedlungen es gibt. So lange die Flüchtlinge nicht als besonders gefährdet eingestuft sind, kann der UNHCR sie nicht umsiedeln, und wenn es keine Plätze gibt, nützt auch das nichts.
Was könnte man stattdessen tun?
Die Weltgemeinschaft sollte in Krisensituationen kurzfristig Programme auflegen, um die betroffenen Menschen aufzunehmen. Nach dem Vietnamkrieg hat man weltweit knapp 2 Millionen Flüchtlinge neu angesiedelt. Länder aus der ganzen Welt haben sich daran beteiligt. Mit einer ähnlichen Initiative heute hätte man die Krise in der Ägäis komplett verhindern können.
Seit drei Jahren wartet Ali nun auf die Hilfe des UNHCR. Seine Freunde haben ihm erzählt, dass die Flüchtlingshelfer immer montags anrufen, wenn es gute Neuigkeiten gibt. Seitdem nennt Ali jeden Montag »Monday of Hope«. Wieder lacht er so laut, dass sich die Leute im Café umdrehen.
Dann holt er aus seinem Portemonnaie einen akkurat gefalteten, laminierten Zettel, und legt ihn zwischen die beiden Telefone auf den Tisch. Es ist seine Registrierungskarte als Flüchtling beim UNHCR. Er trägt sie immer bei sich. Dabei garantiert das Papier ihm nichts: keine Wohnung, keine Sicherheit und kein Geld zum Überleben. Ali verdient ein paar ägyptische Pfund, indem er Kühlschränke repariert und »Made in Egypt«-Plaketten darauf klebt. Auch darüber muss er lachen. Dann faltet er die blaue Registrierungskarte wieder zusammen und sagt: »Es ist ein sinnloses Stück Papier, aber es gibt mir ein bisschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft.«
In Amman ließ Ali sich als Flüchtling registrieren. Doch für ihn gibt es kaum eine Chance, über den UNHCR in einen Drittstaat zu gelangen. Sein Name steht auf der Warteliste. Seinen ersten Termin hat er 21 Monate nach seiner Flucht, im November 2017 in Kairo.
Wenn Sudanesen in den Erstzufluchtsländern als Flüchtlinge anerkannt sind, stehen ihnen mehrere Möglichkeiten offen: die freiwillige Rückführung ins Heimatland, die Integration im Erstzufluchtsland oder eine Umsiedlung in ein Drittland. In den ersten Wochen erhielt Ali etwas Geld für den Start in der neuen Heimat. Er entschied sich, in Jordanien zu bleiben. Die Leute sprachen dieselbe Sprache und hatten die gleiche Religion. Ali dachte: Das muss doch irgendwie passen.
Er suchte sich eine Arbeit und wollte ein neues Leben beginnen. Doch in Jordanien, das bisher mehr als eine Million Syrer aufgenommen hat, ist für Flüchtlinge aus Afrika kein Platz.
Außerhalb von Amman, wenn man die Hochstraßen schon längst verlassen hat, gibt es keine Siedlungen mehr, nur Bauruinen und Brachen. Mitten im kargen Nichts steht ein weißer Büroblock, der von dicken Mauern umgeben ist. Auf dem Logo des Gebäudes formen zwei Hände ein Dach, unter dem ein Mensch Schutz gefunden hat.
Für die afrikanischen Flüchtlinge, die in einer Winternacht im Dezember 2015 hier ihr Protestcamp errichten, sind die schützenden Hände nur eine Illusion. Etwa 800 von ihnen zelten damals vor dem UNHCR-Gebäude. Sie wollen in einen anderen Staat umgesiedelt werden, zumindest aber fordern sie mehr Unterstützung für ihr Leben in Jordanien.
Sechs Wochen lang wärmt Ali seine Hände an einem Feuer aus Müll und schläft auf dem Betonboden des Parkplatzes. Jeden Morgen hält er sein Protestplakat in die Luft, wenn die UNHCR-Mitarbeiter zur Arbeit kommen.
Dann stürmen mitten in der Nacht Männer in Uniform das Camp, Polizisten oder Soldaten, Ali ist sich nicht mehr sicher. Sie knüppeln die Flüchtlinge nieder, bringen sie in eine Lagerhalle und beschießen sie mit Tränengas. Mehrere Sudanesen sterben bei der Räumung, Ali wird abgeschoben.
Jordanien hat mit der Aktion die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt, doch internationale Proteste bleiben aus. Stattdessen wird das Land auch weiterhin für ihren guten Umgang mit Flüchtlingen aus Syrien gelobt.
Ali erzählt, nach der Abschiebung sei er in Khartum gefoltert worden. Die Geheimpolizei wollte herausfinden, ob er die Opposition unterstützt. Nach 16 Tagen wurde er freigelassen, zwei Tage später verhafteten sie ihn erneut, verhörten ihn und folterten ihn.
Bei der nächsten Gelegenheit bezahlte er einen Schlepper, der ihn für 50 Dollar nach Ägypten brachte.
Das Viertel von Alis Wohnung ist durch ein schweres Eisentor von dem Viertel der Ägypter getrennt. Es steht immer offen, und doch vermittelt es den Eindruck, als würde man ein geschütztes Lager betreten. Das Tor gibt Ali das Gefühl von Sicherheit. Ali und die anderen Sudanesen verlassen das Haus nur, wenn es sein muss, denn draußen müssen sie ständig fürchten, wegen ihrer Hautfarbe Probleme mit Ägyptern zu bekommen. »Ich würde keinem schwarzen Menschen empfehlen, in Jordanien und Ägypten zu leben. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht auf der Straße beschimpft werde«, sagt Ali.
Jeder dritte Ägypter lebt unterhalb der Armutsgrenze, das Land ist überfordert mit den Flüchtlingen. Es fehlt schlicht an Geld, um sie alle zu versorgen und unterzubringen. Und ihre Zahl steigt: Knapp 60 Prozent mehr als im Vorjahr registrierten die UN im Jahr 2016. Sie kommen aus dem Sudan, aus Äthiopien und Eritrea und viele leben wie Ali in der Trabantenstadt 6th of October am Rande von Kairo.
Mit beiden Zeigefingern schiebt Ali seine Haare zur Seite und bringt eine große Narbe zum Vorschein. Dann lacht er wieder. »Du denkst, die Narbe habe ich aus Khartum.« Dann schüttelt er den Kopf. Zur Antwort, aber wohl auch ein wenig über den UNHCR, von dem er sich verraten fühlt.
Es passierte im Juni 2016: Ali ist mit Freunden unterwegs, als sie der Imam der örtlichen Moschee abfängt. Er will wissen, warum sie freitags nicht zum Gebet kommen. Ali hat seit seiner Abschiebung aus Jordanien keine Moschee mehr betreten. Er hat aufgehört zu beten und sich vom Islam abgewendet. Als er sagt, dass er kein Muslim sei, hetzt der Imam seine Leute auf ihn. Sie treiben ihn durch die Straßen Kairos, bis er Schutz in einer Polizeistation findet. Zum ersten Mal drückt er die Kurzwahl 1 auf dem Phone of Hope. Eine Mitarbeiterin des UNHCR holt ihn ab und bringt ihn in eine Wohnung in Alexandria.
Die Notunterkunft wird von einem syrischen Flüchtling verwaltet. Er bringt täglich Essen und der UNHCR zahlt die Miete. Aber nach sechs Wochen kippt die Stimmung. Plötzlich fordert der Syrer Geld von Ali und zeigt ihn bei der Polizei an. Ali gibt zu Protokoll, nicht er sei der Betrüger, sondern der Syrer. Die Polizisten glauben ihm nicht und drohen, ihn nach Khartum abzuschieben, wenn er weiter lüge.
Wieder wählt Ali die Nummer des Notfalltelefons. Dieses Mal schickt der UNHCR einen ägyptischen Anwalt. Doch er hilft Ali nicht, sondern fordert ihn auf, die Aussage zu zurückzuziehen, um den Syrer vor der Abschiebung zu schützen.
Sie vereinbaren einen Deal. Ali widerruft seine Aussage und der Syrer lässt die Anzeige fallen. Doch bevor Ali auf die Straßen von Alexandria entlassen wird, erteilen die Polizisten ihm eine Lektion: Mit Schlagstöcken schlagen sie auf seinen Kopf ein, bis er blutet. Vor der Polizeistation wartet der Anwalt auf ihn. Er verbietet Ali, die Notunterkunft je wieder zu betreten.
Seine Narbe trägt Ali auch als Erinnerung daran, dass er keine Rechte hat in Ägypten.
Vermisst du deine Mutter Ali?
Wenn ich an sie denke, erinnere ich mich immer an die Peitsche. Sie hat mich geschlagen, wenn ich etwas Böses getan habe.
Das tut mir leid.
Nein, das war gut. Es hat mich stark gemacht. So werde ich das hier alles durchstehen. Ich bin ihr dankbar. Heute weine ich nicht mehr bei jedem Bisschen. Jetzt kann ich auch das Warten ertragen, so wie die Schläge und die Folter in Khartum.
Ali, willst du es wirklich über das Mittelmeer versuchen?
Wenn ich im Mittelmeer sterbe, dann rückt jemand auf der Warteliste nach. Wenn ich sterbe, kommt vielleicht jemand an meiner Stelle nach Europa. Dann hat es wenigstens einen Sinn.
Seit eineinhalb Jahren lebt Ali nun in Kairo. Er ist ein aufgeweckter junger Mann. Und eines ist er sicher nicht: naiv. Aber inzwischen würde er jederzeit nach Libyen aufbrechen, um dort in ein Boot nach Europa zu steigen. Einmal hat er es schon versucht. Doch die Grenze nach Libyen war dicht.
Seine Freunde in Europa posten auf Facebook keine Bilder von Auffanglagern oder Abschiebegefängnissen. In ihren Nachrichten schreiben sie nicht von der Qual des Wartens auf die Asylentscheidung, sondern von Europas blühenden Landschaften und sauberen Städten.
Ali hat keine Ahnung, was ihn erwartet, falls er es eines Tages über das Meer schafft.
Ein schillerndes Bild von Europa hat sich in seinem Kopf festgesetzt, ein Europa der glänzenden Fassaden, mit kostenlosen Universitäten und ohne Rassismus. Aber seine Möglichkeiten werden dort genauso begrenzt sein wie hier. In Kairo kann er nicht studieren, weil ihm das Geld fehlt. In Europa wird es an seinem Status scheitern. Egal, ob er geht oder bleibt, was immer er tut, er wird weiter warten.
Und auf dem Weg liegen die libysche Wüste und das Mittelmeer.
Ali ist überzeugt davon, dass es nur besser werden kann. Wenn man versucht, ihm zu erklären, dass es in Libyen schlimmer wird, blockt er ab. Die Gedanken an das, was hinter der Grenze kommt – ein gescheiterter Staat in der Hand skrupelloser Warlords, Islamisten und Schlepper – blendet er aus. Die tausenden Toten auf dem Grund des Meeres verdrängt er: »Alles ist besser als das hier«, sagt er.
Ali wird die Hoffnung nicht aufgeben, bevor die harte Realität der europäischen Flüchtlingspolitik seine Träume zerstört. Er hat noch nicht begriffen, dass er bereits Opfer dieser Politik geworden ist. Er wird weiter hoffen und weiter warten.Z